Samstag, 26. Januar 2013

Care-Ethik, Carol Gilligan



Texte zur Ethik
Care-Ethik (S.57-60)

Der Begriff "Care-Ethik" wurde von Carol Gilligan in "In a Different Voice" (1982) geprägt. Gilligan, eine Mitarbeiterin Lawrence Kohlbergs, stellte fest, dass Frauen Dilemmata häufiger durch Bezugnahme auf Rücksichtnahme und Hilfeleistungen im interpersonalen Bereich lösten, was der Stufe 3 von Kohlbergs Stufenmodell entspricht. Während Frauen auf Stufe 3 sich vor allem an ihrer umgebenden Primärgruppe (peers) orientieren, baut sich die "Fairness-Ethik" der Männer auf den Rechten und Pflichten in sozialen Organisationen (law & order) auf und fokussiert Gerechtigkeit. "Während eine Ethik der Gerechtigkeit von der Prämisse der Gleichberechtigung ausgeht, daß alle gleich behandelt werden sollten, basiert eine Ethik der Anteilnahme/Zuwendung/Fürsorge auf der Prämisse der Gewaltlosigkeit, daß niemand Schaden erleiden sollte" (Gilligan 1984, 212).

Michael Slote eruiert anhand des Skokie-Falles, bei dem es um eine Demonstration von Neonazis im Ort Skokie (Illinois) geht, in dem eine Vielzahl an Holocaust-Überlebenden lebt. Liberale wiesen in diesem moralischen Konflikt auf das Recht der freien Meinungsäußerung hin und setzten sich für die Erlaubnis derartiger Aufmärsche ein. Care-Ethiker verwiesen dagegen auf den Schutz der physischen und psychischen Disposition der dort ansässigen Bevölkerung und setzen sich gegen die geplanten Aufmärsche ein.

Texte zur Ethik
Carol Gilligan: Care-Ethik (S.351-360)

Die Gerechtigkeitsperspektive soll neu verstanden werden als eine Art, moralische Probleme aufzufassen, alternativ dazu soll die Perspektive der Fürsorge gesehen werden. Moralische Konflikte können sowohl mit Rekurs auf Gleichheit wie auf Bindung nachgezeichnet werden.Die moralischen Gebote, die aus diesen Perspektiven folgen, lauten. a) anderen gegenüber nicht unfair zu handeln, b) jemanden, der in Not ist, nicht im Stich zu lassen.

Gilligan beobachtete zwei Studien zum moralischen Urteilen. In der einen schilderten College-Studenten ihre Erfahrungen mit moralischen Konflikten, in der anderen beschäftigten sich schwangere Frauen mit Abtreibung. Hier ging es also nicht um hypothetische Dilemmata, sondern um Konfliktlösungsmodi im wahren Leben. Hierbei bemerkte sie, dass Frauen moralische Konflikte oft nicht durch Kategorien der Moraltheorie charakterisieren. Über diese Entdeckung kam sie zu der Erkenntnis, dass Kohlbergs Untersuchungsdesign zur Moralentwicklung mangelhaft gewesen sei, da er "rein männliche Stichproben als empirische Basis für die Theoriekonstruktion" verwendet habe - mit einer geschlechtshomogenen Stichprobe Analysekategorien zu erstellen, hält Gilligan für logisch inkonsistent.

Schwierigkeiten mit dieser Konzeption hätten sich schon bei Piaget gezeigt, da er die Entwicklung des kindlichen Bewusstseins auf der Grundlage seiner Beobachtung des Murmelspiels von männlichen Kindern definierte und anschließend die aufgestellten Entwicklungsstufen nur mutatis mutandis auf weibliche Spielerinnen anwenden konnte (weil die Entwicklungssequenzen der Spielerinnen nicht im selben Verhältnis zu sozialen Erfahrungen standen).

Gilligan beklagt, dass Piaget an dieser Stelle nur die Übereinstimmung im Regelgebungsverhalten der beiden Geschlechter festgehalten, aber nicht die festgestellten Unterschiede thematisiert hat. Mädchen hätten größere Toleranz, eine stärkere Tendenz zu Innovationen der Konfliktlösung, eine größere Bereitschaft für Ausnahmen bei Regeln und geringeres Interesse für juristische Ausarbeitung gezeigt.

Kohlberg setzte laut Gilligan die moralische Entwicklung von Kindern mit der Entwicklung des Urteilens über Gerechtigkeit gleich. Sie hält fest, dass er seinen Test später selbst als Maß des "Urteilens über Gerechtigkeit" und nicht mehr als Test der "moralischen Reife" bezeichnet hat, jedoch habe die Studie weiterhin unglückliche Folgen:
1) Die Unterscheidung unterschiedlicher Entwicklungsstufen innerhalb einer einzelnen Orientierung
2) Die Tatsache, dass weibliche Moralvorstellung bis dato weder zur Konstruktion der Bedeutungsstruktur noch der Messinstrumente des moralischen Urteilens untersucht wurden

Für Gilligan, die eine Unterscheidung zwischen der Perspektive der Fürsorge und der der Gerechtigkeit anstrebt, legt die empirische Korrelation zwischen weiblicher Geschlechtszugehörigkeit und Fürsorge-Orientierung nahe, dass die Diskrepanzen zwischen Moraltheorie und weiblichen Moralurteilen eine anders geartete moralische Orientierung widerspiegeln. Sie möchte die beiden Perspektiven als komplementär und nicht gegenseitig ausschließend verstanden wissen. Hierbei behauptet sie, dass das Selbst in der Gerechtigkeitsperspektive Beziehungen im Begriff der Gleichheit/Ungleichheit denkt, während es in der Fürsorgeperspektive in Bindung/Trennung einteilt:


Fairness-Ethik
Care-Ethik
Beziehungsdimension
Ungleichheit/Gleichheit
Bindung/Trennung
Aspekte
Hierarchie/Gleichgewicht
Netzwerk/Gewebe
Position des Selbst
Das Selbst beurteilt konfligierende Ansprüche nach dem Standard der gleichwertigen Beachtung (kategorischer Imperativ)
Das Selbst ist darauf eingestellt, Bedürfnisse wahrzunehmen
Frage
"Was ist gerecht?"
"Wie soll man reagieren?"

Am Beispiel der Abtreibungsdebatte konkretisiert Gilligan die Sichtweise der Care-Ethik. Während Fairness-Ethiker die rechtlichen Ansprüche des Fötus zu ergründen suchen und sie gegen die der Mutter abwägen, fragen die Care-Ethiker, ob es fürsorglich/leichtsinnig oder verantwortlich sei, einen Abbruch vorzunehmen. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Parameter der Verbindung und auf die Kosten einer Trennung.

Gilligan hält fest, dass die Fürsorgeperspektive in den von Kohlberg durchgeführten Studien nahezu ausschließlich von Frauen eingenommen wurde und dass diese Perspektive nicht durch einen geringen Bildungsstand erklärt werden kann - diese Interpretation des geringeren weiblichen Niveaus bei Gerechtigkeitsurteilen wurde von Kohlberg angeführt. "Bisher war man der Meinung, daß diese Frauen mit dem Verständnis von >Moral< Probleme hätten. Indessen kann man auch die Auffassung vertreten, daß diese Frauen die Problematik einer gerechtigkeitsbestimmten Moraltheorie sichtbar machten."

Weiterhin bemerkt sie, dass Männer und Frauen dazu neigen, die jeweils nicht eingenommene Perspektive auszublenden. Besonders auf der männlichen Seite stellt sie ein Ausbleiben der Fürsorgeperspektive fest und fragt sich, wieso Männer in ihren Antworten die Care-Ethik nicht zum Thema machten.

Zusammenfassend wünscht sich Gilligan, dass die Fürsorge nicht nur als ein höchstens ergänzender moralischer Gesichtspunkt, sondern "als einen Fokus moralischer Aufmerksamkeit" anerkannt wird.

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