Samstag, 26. Januar 2013

Psychologische Ethik, Alfred Schöpf



Psychologische Ethik (S. 210-234)
Alferd Schöpf
[aus: Geschichte der neueren Ethik, Band 2]

Ontogenese und Phylogenese der Moral
(In der Entwicklungspsychologie versteht man unter 'Ontogenese' die individuelle (psychische) Entwicklung. In der Biologie ist der Gegenbegriff 'Phylogenese'; das ist die Geschichte des Stammes alles Lebenden und dessen Verzweigungen.)

Man kann auf zwei Weisen nach dem Grund des moralischen Denkens fragen. Die Psychologie tut dies genealogisch, das heißt, sie fragt nach der Entstehungsgeschichte. Die Philosophie dagegen will die Frage der Begründung moralischer Urteile als Geltungsfrage (quid iuris) von der Frage nach ihrer Entstehung (quid facti) trennen. Die 'quaestio facti' betrifft nur die Art, wie eine Erkenntnis tatsächlich erworben wird. Ihr stellt der Kritizismus die 'quaestio juris', d. i. die Frage nach der transzendentalen Befugnis eines Begriffes nach seinem Rechtsanpruch  entgegen.

An dieser Schnittstelle sieht man in der Philosophie die Gefahr des Psychologismus gegeben: Wären die Kriterien und Begründungen von moralischen Entscheidungen auf seelisches Erleben und Einzelschicksale zurückzuführen, würde dies moralische Urteile bedingt und wandelbar machen. Dies würde einem transzendental-logischen Begründungsideal nicht genügen.
Es ist deshalb wichtig festzuhalten, dass die Psychologie als empirische Wissenschaft sich nur mit der faktischen Art des Entstehens von moralischen Überzeugungen beschäftigt.
Die Psychologische Ethik ist insofern von der Philosophie abhängig, als dass ihre Begründungsverfahren (nämlich die moralischen Bedingungen der psychosozialen Welt zu rekonstruieren) von dem abhängen, was als Maßstab der Obligationen und ihrer strukturellen Integration in einer moralischen Persönlichkeit zugrunde gelegt wird. Hier sind Rechtfertigungsverfahren einer Philosophischen Ethik vorausgesetzt, insofern ist die Psychologische Ethik keine autarke, geschlossene Disziplin.

Das Gebiet der faktischen Entstehungsgeschichte moralischer Überzeugungen und gliedert sich in drei Teilbereiche, von denen einer der Ontogenese und zwei der Phylogenese angehören:

Ontogenese
(betrifft das Entstehen moralischer Überzeugungen eines Individuums)
Phylogenese
(betrifft das Entstehen moralischer Überzeugungen als Prozess innerhalb der Menschengattung)

betrifft das Entstehen moral. Überzg. als Prozess der Menschengattung
betrifft das Entstehen moral. Überzg. als Prozess der Evolution
Aufgabe d. Entwicklungspsychologie
Aufgabe d. Gesellschaftswissenschaften
Aufgabe d. Biologie

Davon klar abzutrennen ist die Philosophie, der die Aufgabe der Rechtfertigung von Maßstäben zufällt. Es ist jedoch fragwürdig, ob die Wahrheit eines moralischen Urteils ausschließlich durch formale Prozeduren der Rechtfertigung aus Vernunftgründen zu erweisen ist, oder ob sie sich auch in seiner Entstehungsgeschichte zeigt.

Bei den Anstrengungen, die unternommen werden, um die formale Richtigkeit eines moralischen Urteils nachzuweisen werden für gewöhnlich 2 Schritte angewendet. Zum Einen wird aus dem Erleben einer Handlungssituation eine Handlungsregel/-maxime herausgelöst, zum Anderen nimmt man in einem Universalisierungsverfahren den Standpunkt eines allgemeinen Subjektes ein (im Gegensatz zu einem historisch bestimmten Subjekt mit propositionalen und volitionalen Gehalten). Durch diese Maßnahmen versucht man zu erreichen, dass die so gefundenen Maximen für jedermann jederzeit gelten können.

Jedoch sind für die Wahrheit eines moralischen Urteils in konkreten Entscheidungssituationen möglicherweise noch andere Bedingungen von Relevanz. So benötigt der Mensch für seine Entscheidung laut J. Rawls zum Beispiel eine inhaltlich moralische Überzeugung, die der formalen voraus gehen muss. Diese nennt Rawls "wohl überlegte Urteile". Nach Aristoteles benötigt ein Subjekt zum moralisch korrekten Handeln auch sittliches Verständnis, um die Bedingungen einer Situation angemessen erfassen zu können. Diese Erfahrungsgrundlage des Moralischen gilt es, näher zu beleuchten:
Unter welchen Bedingungen externer und interner Art kommt moralische Erfahrung zustande?
Wie beschaffen muss die kognitive Grundlage unseres Urteilens sein, damit eine Persönlichkeit moralisch ist?

Moralpsychologie und psychologische Ethik
Die psychologische Ethik beschäftigt sich mit der inhaltlichen Begründung der Entstehung des Sollens und der moralischen Identität als Voraussetzung für formale Rechtfertigungsverfahren. Die Moralpsychologie hat zwei große Themenbereiche:
1.) Inhaltliche Frage: Wie kann der Mensch moralisches Sollen erkennen und fühlen? Welches sind  
     die Entstehungsbedingungen?
2.) Strukturelle Frage: Ist das Erfassen moralischer Probleme als Kompetenz bereits angeboren?
     Müssen bestimmte Bedingungen erst sein Entstehen ermöglichen? Welches Niveau von
     Gefühlsdifferenzierung ist Voraussetzung für eine moralische Identität?

Die moralische Entwicklung als Gebiet der Entwicklungspsychologie ist in drei einflussreichen Richtungen zum Thema geworden.
1.) In der genetischen Theorie der Genfer Schule Jean Piagets mit Nachfolgern bei Lawrence Kohlberg, auslaufend in neueren Theorien des Perspektivwechsels und der sozialen Kognition.
2.) In der behavioristischen Tradition in ihrer radikal-reduktionistischen Form bei B.F. Skinner, die in die kognitiv orientierte Verhaltenspsychologie einmündet.
3.) In der Psychoanalyse bereits bei Sigmund Freud & weiteren Entwicklungen der Ichpsychologie.

Jean Piaget: Die Entwicklung des moralischen Urteils
Piagets genetische Schule beschäftigt sich mit moralischen Phänomenen, die er exemplarisch in Kinderspielen studiert. Dazu legt er den Kindern moralisch relevante Spielsituationen vor und befragt sie  zu deren Vorstellungen im Hinblick auf Fairness im Spiel, angebrachte Strafen etc.
Wenn die psychologische Persönlichkeit in fünf Systeme eingeteilt wird, nämlich Wahrnehmung, Denken, Bedürfnisse und Triebe, Emotionen, sowie Handlungen, dann ist Piaget vorrangig mit dem Zusammenhang zwischen Wahrnehmung-Denken-Handlung befasst. Es ergibt sich, dass die Systeme Emotionen, sowie Handlungen und Triebe methodisch ausgeklammert werden.
Es ist zum genaueren Verständnis anzumerken, dass Piaget hauptsächlich Jungenspiele analysierte, gebräuchliche Spiele verwendete und nicht die tatsächliche Spielsituation betrachtete; für die Tragweite seiner Theorie ist außerdem eine Erklärung seiner sechs Grundannahmen nötig:

1. Operatives Denken
Im Zentrum steht der Begriff des Denkens, dem Piaget operativ auffasst, d.h. als eine Art "in der Vorstellung handeln" oder Probehandeln.

2. Interaktionelles Denken
Das Denken steht in einem wechselseitigen Austauschprozess mit der Umwelt. Zum Einen muss sich der Organismus der Welt anpassen (Akkommodation) und zum Anderen passt er die Welt sich an (Assimilation).

3. Äquilibration
Die Austauschprozesse tendieren zu einem Gleichgewicht hin. Sie sind unter dem Gesichspunkt der Entwicklung zur Äquilibration hin zu erforschen.

4. Intelligenzpsychologie
Das Denken ist nur Teil von wesentlich allgemeineren Austauschprozessen mit der Umwelt. Alle Gleichgewichtslagen, die Organismen herstellen können, bezeichnet Piaget als intelligent. Intelligenz wird hier zu einem transitorischen Begriff, der die Felder der Biologie mit denen der Psychologie/Soziologie und der Logik verbindet.

5. Äquilibration = optimal
Anzustreben ist eine Gleichgewichtsform nahe einer mathematischen Gleichung, die in einer vollendeten Austauschbeziehung steht.

6. schème und structure
Piaget führt zwei Begriffe ein, 1.) das Handlungsschema (schème), 2.) die Handlungsstruktur (structure). Mit schème ist die Koordination von Handlungsabläufen und ihre Zusammenfassung zu einer Form gemeint. Davon unterschieden ist structure das allgemeinene Intelligenz- oder Handlungsniveau, auf dem diese Schemata angesiedelt sind.

Die prämoralische Strukur des Motorischen
Piaget unterscheidet eine vormoralische Phase der kindlichen Entwicklung von der moralischen.
Die vormoralische Phase nennt Piaget die 'sensu-motorische Phase', in ihr nimmt das Kind über die Sinne Reize auf und reagiert motorisch. Dem Aufgenommenen entsprechen noch keine Vorstellungsbilder, aber die Handlungsschemata werden komplexer.
In der folgenden Phase entwickelt das Kind symbolisches/anschauliches Denken.

Zwischen diesen beiden Phasen weist das Kind eine Regelmäßigkeit im Handeln auf, aber es ist nicht in der Lage, die Regeln einzusehen. Es probiert sich im Handeln aus ohne nachzuahmen - Nachahmung ist aber eine Voraussetzung für Sozialcharakter einer Handlung, ohne diesen kann es auch keine Frage nach Anerkennung der eigenen Handlung und keine Sollens-Verpflichtung geben.

Regelerkenntnis
In der prämoralischen Phase weist das Kind motorische Regelmäßigkeit auf, kann aber keine Regeln selbst einsehen. Diese structure herrscht vom ersten Lebensjahr an bis zum Grundschulalter vor. Drei Punkte markieren die prämoralische Phase, die egozentrische Perspektive,  der moralische Realismus und der Zwang der Erwachsenen.
-Die egozentrische Perspektive besagt, dass das Kind intelligenzmäßig noch nicht in der Lage ist,
 seine Perspektive zu dezentrieren, d.h. sich in andere hinein zu versetzen.
-Der moralische Realismus des Kindes bedeutet, dass es Handlungen danach beurteilt, was sie als
 Folgen in der Sichtweise der Eltern nach sich ziehen. Das Gut-Sein einer Handlung wird nicht von
 der Absicht abhängig gemacht, sondern von ihrem materiellen Resultat.
-Der Zwang der Eltern wirkt hier regulierend auf das Kind, das noch keine Regeln selbst einsehen
 kann.

Die Voraussetzungen für den Übergang von der prämoralischen structure zur Einsicht in eine Regel sind dreierlei:
1) Fähigkeit zur Nachahmung
    (Erwachen einer spezifisch sozialen Wahrnehmung, probeweises Einnehmen einer anderen 
    Perspektive)
2) Fähigkeit zu spielen
    (soziale Wahrnehmungen können so verarbeitet werden, dass das Kind sie symbolisch
    ausdrücken kann und ihnen eigene Bedeutung zulegt)
3) Innere Vorstellungsbilder
    (Um sich symbolisch ausdrücken zu können, benötigt das Kind eine eigene Vorstellungswelt)

In dieser Übergangsphase hin zur Regeleinsicht kann das Kind verpflichtende Regeln erfassen und sie befolgen; Piaget nennt sie deshalb eine einseitige Achtungsphase, die durch die elterlichen Ansprüche getragen wird. Weiterhin bezeichnet Piaget diese Moral als heteronom, weil sie sich am Handlungserfolg (Lob/Strafe) orientiert.

Eine Wende tritt für Piaget mit dem Lebensalter von sieben auf acht Jahre ein. Es entsteht eine Wandlung des Maßstab des Sich-Verpflichtet-Fühlens von der Verpflichtung gegenüber äußeren Forderungen zu einer Verpflichtung gegenüber sich selbst.
Den Entwicklungsfortschritt kontrastiert er mit der prämoralischen structure:

egozentristische Perspektive
Fähigkeit die eigene Perspektive zu dezentrieren
moralischer Realismus
Ablösung von elterlichen Zwang hin zu einer unabhängigen Sichtweise moralischer Probleme
Lob/Strafe
Orientieren an der inneren Absicht

Insgesamt durchläuft die moralische Entwicklung des Kindes nach Piaget vier Stadien, wobei das vierte Stadium mit dem 10.-12. Lebensjahr erreicht wird:
1) Regel ohne das Bewusstsein moralischer Verpflichtung
2) Regel mit Verpflichtung gegenüber der Autorität
3) Regel auf Verpflichtung zur wechselseitigen Zusammenarbeit
4) Regel aufgrund der Verpflichtung zur wechselseitigen Zusammenarbeit

Im vierten Stadium wird das Regelbewusstsein reflex und sucht nach verbindlichen Gesetzen zur Regelbegründung. Das Endziel der moralischen Entwicklung stellt sich für Piaget als Autonomie und Zusammenarbeit bei wechselseitiger Achtung dar. Moral hängt für ihn also am sozialen Faktum der Interaktion zwischen Menschen ab.

Weiterentwicklungen
Lawrence Kohlberg rückte den Fokus der Moralentwicklungsforschung noch mehr ins Abstrakte, da sie sich nicht mehr für die Strukturen des moralischen Urteils, sondern für dessen Begründung interessierte. Er behauptet mit seinem Stufenmodell sowohl Kinder als auch Erwachsene invariant aus allen Kulturen erfassen zu können. Mit seinem Ebenenschema  stieß er auf Kontroversen, die einmal die hierarchisch aufgebaute Stufenfolge, aber auch die Orientierung an westlichen Kulturen, die Favorisierung männlicher Erlebenswelten und die empirische Nachprüfbarkeit der Existenz der Stufen 5 und 6 betreffen.

[IN BEARBEITUNG]

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