Donnerstag, 7. Februar 2013

Carol Gilligan and the History of Ethics

Carol Gilligan and the History of Ethics
in: Essays on the History of Ethics - Michael Slote, S. 150-161

Slote fasst Gilligans Buch In a Different Voice als Richtigstellung einer Voreingenommenheit in der Forschung auf. Demnach sei unter anderem durch Kohlbergs und Piagets Studien impliziert worden, dass Frauen den Männern moralisch unterlegen seien. Gilligan bemerke richtig, dass Entwicklungsmodelle, die allein auf Studien an männlichen Probanden basieren, lediglich feststellen können, dass Frauen anders - jedoch nicht schlechter - moralisch denken und urteilen als Männer.

Trotz den Zweifeln an der empirischen Validität von Gilligans Studien hebt Slote hervor, dass Gilligans Buch die Bekanntheit der Care-Ethik befördert und den Anstoß zu weiteren Publikationen auf diesem Gebiet gegeben hat. Darüber hinaus habe Gilligan selbst ihre Behauptungen zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen revidiert und die Bedeutung der Care-Ethik unabhängig von Geschlechterunterschieden betont. Als kontemporäre Werke zur Care-Ethik zählt Slote Sara Ruddicks Maternal Thinking und Lawrance Blums Friendship, Altruism and Morality, die beide 1980 erschienen sind, sowie Nel Noddings Caring: A Feminine Approach to Ethics and Moral Education, welches 2 Jahre nach Voice erschien und explizit versuchte, eine Fürsorgeethik zu entwickeln.

Außerdem sieht Slote eine weitere wichtige Auswirkung von Gilligans Werk auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte. Wenn die Voreingenommenheit der Untersuchenden bis jetzt für einen unbegründeten Ausschluss der Frauen gesorgt habe, müssen nun entsprechende Werke anders bewertet werden.

Gilligans Beharren auf dem Dualismus zwischen rationalistischem Liberalismus (Vertreter: Kant, Rawls, Dworkin, Nagel, Scanlon) und der Care-Ethik wirft für Slote die Frage auf, wo in dieser Kluft der utilitaristische Konsequentialismus oder die (neo-aristotelische) Tugendethik anzusiedeln seien. Gilligans Umstrukturierung der normativen Ethik sorge so für eine Re-evaluation bisher angenommener Hierarchien bzw. Gleichstellung bestimmter Strömungen der normativen Ethik. Anders als Kohlberg scheint Gilligan allerdings von einer Gleichberechtigung der von ihr als am wichtigsten empfundenen Stimmen auszugehen und die unterschiedlichen Sichtweisen
Slote weist darauf hin, dass die Care-Ethik historisch im moralischen Sentimentalismus des achtzehnten Jahrhunderts (Vertreter: Hume, Hutcheson) verwurzelt ist und auch dem christlichen Agapismus Rechnung zu tragen hat.

Slote geht im Folgenden auf Nancy Chodorows Werk The Reproduction of Mothering ein, die den von Gilligan aufgeworfenen Dualismus von Getrenntheit/Autonomie und Bindung/Verantwortung auf seine Wurzeln in der Kindheit untersucht. Chodorows Ansicht nach schätzen Männer Getrenntheit mehr als Frauen, da sie sich in ihrer Kindheit, um ihre Geschlechtsidentität ausbilden zu können, von ihrer Mutter (primary care giver) lösen müssen. Frauen hingegen müssten aus der Bindung zu ihrer Mutter nicht austreten.

Die Kluft zwischen Bindung und Getrenntheit kann nach Slote aber auch unabhängig von Geschlechterunterschieden untersucht werden, was er in seinem Buch The Ethics of Care versucht. Ankerpunkt seiner Erläuterungen ist die Stadt Skokie in Illinois, in der sich einige Holocaustüberlebende angesiedelt haben. Kantische Liberalisten hätten unter der Berufung auf das Versammlungsrecht und die freie Meinungsäußerung dafür argumentiert, einen Naziaufmarsch in diesem Ort zu erlauben. Dagegen sei den Care-Ethikern der Wert der Verbindung und Fürsorge wichtiger als Autonomierechte gegen andere. Die Care-Ethiker hatten im Blick, dass ein Naziaufmarsch die Überlebenden retraumatisieren und verletzen könne, auf Seiten der Liberalisten sei dagegen die Gefahr für die Überlebenden ignoriert und der Fokus auf die Konsequenzen eines Verbotes gelenkt worden - obwohl Skokie von den Nazis mit Hinblick auf dessen Bevölkerung und die durchschlagende Wirkung eines Aufmarsch ausgewählt worden war.

Diese unterschiedlichen Ansichten sind Slotes Ansicht nach in einer unterschiedlichen Bewertung von Getrenntheit/Bindung zu suchen, welche schon in der Kindheit ausgebildet werden. Er nimmt eine psychologische Ursache für die Tendenz zu einer der beiden Stimmen an. Da sowohl im Konsequentialismus als auch in der aristotelischen Tugendethik dieses Wertungsproblem nicht angesprochen oder aufgeworfen wird, seien diese als weniger wichtig zu betrachten. Demnach sollte die Entwicklung dieser beiden Strömungen in Beziehung zu den beiden Hauptströmungen gesetzt werden.

Slote nimmt an, dass Kantianer sich fragen würden, wieso psychologische Fragestellungen in ethischen Theorien und deren Geschichte auftauchen sollten. Um diese Frage zu beantworten, vergleicht er Gilligans Aufsatz, der seiner Meinung nach weitreichende Folgen für philosophische Theorien hat, mit William James' Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking.
Williams habe eine Unterscheidung zwischen 'tough-minded' und 'tender-minded' philosophischen Sichtweisen getroffen. Obwohl diese Unterscheidung von Slote als hilfreich angesehen wird, um philosophische Entscheidungen zu verstehen, hat sie seiner Meinung nach nicht dieselbe Durchschlagskraft wie Gilligans Thesen. Zum Einen siedelt James seine Unterscheidung nicht in der Kindheit an, zum Anderen erklärt er auch nicht, wieso überhaupt eine Philosophen der einen und andere der anderen Denkart anhängen.

Weiterhin könne ein Kantianer fragen, warum Gilligans These relevant für Fragen der ethischen Richtigkeit sein sollte. Mit Margaret Walker und Alison Jaggar behauptet Slote, dass man ein Interesse daran haben sollte, seine eigenen Werurteile auf ihre Herkunft zu überprüfen, um Engstirnigkeit, Vorurteilsbeladenheit und Eigeninteresse als Antrieb auszuschließen. Diese Idee des kritischen Hinterfragens der eigenen Urteilsmotive wurde bereits von Bernard Williams ausführlich bearbeitet. Falls diese Art von empirischen Faktoren für die ethische Glaubwürdigkeit relevant sei, wäre es falsch von Kantianern am non-empirischen Charakter ethischer Fragestellungen festzuhalten.

Gilligan biete eine Möglichkeit an, zu verstehen, warum/auf welchem Wege Menschen zu einer normativen Orientierung gelangen - diese Möglichkeit böten der Konsequentialismus oder die aristotelische Tugendethik nicht. Indem sie neue Wege eröffnen, ethische Fragestellungen zu begreifen, sei ihre Arbeit für die Philosophie sogar wichtiger als die Kohlbergs oder Freuds.

Der Grund für die große Außenwirkung von Gilligans Werk liege darüber hinaus im Zeitpunkt, zu dem es erschien (Frauenbewegung), seiner Abkehr von einem Mutterbild der Selbstaufgabe, seiner expliziten Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen und zuletzt Gilligans eingängiger These eines Dualismus der moralischen Stimmen.











Montag, 4. Februar 2013

Einführung (Die andere Stimme), Carol Gilligan



Carol Gilligan, Die andere Stimme: Lebenskonflikte und Moral der Frau, Einführung (S.9-12)

Gilligan schreibt Die andere Stimme aus ihrem wachsenden Bewusstsein über die Probleme bei der Interpretation weiblicher Entwicklung. Diese Probleme stehen ihrer Ansicht nach in Verbindung mit dem wiederholten Ausschluss der Frauen aus den entscheidenden, der Theoriebildung dienenden Untersuchungen der psychologischen Forschung. 

Die Diskrepanz zwischen der weiblichen Entwicklung und den in der psychologischen Literatur beschriebenen Entwicklungsschritten wurde bisher als Entwicklungsproblem der Frauen interpretiert, Gilligan verortet den Mangel jedoch in der Theoriebildung.

Laut Gilligan ist die andere Stimme nicht an ein Geschlecht gebunden, die Zuschreibung zu den Frauen sei ein rein empirischer Sachverhalt. Den Rahmen ihrer Arbeit steckt Gilligan klar ab, so möchte sie keine Thesen über den Ursprung der von ihr beschriebenen Unterschiede aufstellen oder über deren historische/soziale Verteilung Aussagen machen. Dennoch sagt sie anschließend aus, dass diese Unterschiede offensichtlich in einem sozialen Kontext entstehen, in dem sozialer Status, Macht und biologische Gegebenheiten eine Rolle spielen.

Sie bedient sich dreier Studien, um ihre Theorie zu untermauen:

1) Studentenuntersuchung
Identität und moralische Entwicklung werden untersucht, nach den Erfahrungen moralischer Konfliktsituationen und dem Treffen von Lebensentscheidungen gefragt wird. 25 StudentInnen aus einem Kurs über moralische und politische Entscheidungsfindung werden im vierten Studienjahr und fünf Jahre nach dem Studienabschluss befragt.

2) Abtreibungsuntersuchung
Untersuchung der Beziehung zwischen persönlicher Erfahrung, moralischem Denken und der Rolle des Konfliktes in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. 29 Frauen werden zu einem Zeitpunkt interviewt, an dem sie sich mit dem Gedanken einer Abtreibung tragen, sowie ein Jahr später. Sie unterscheidet ihren Forschungsansatz von vorangegangenen Studien zur moralischen Entwicklung (bspw. Kohlberg & Piaget), da sie fragt, wie Menschen moralische Probleme definieren und welche Erfahrungen sie als moralische Konflikte erleben, anstatt sich auf Problemlösung von vorgelegten Konflikten zu konzentrieren.

3) Rechte-und-Verantwortunguntersuchung
144 Männer und Frauen der Altersstufen 6-9, 11, 15, 19, 22, 25-27, 35, 45 und 60 Jahre, die im Hinblick auf Alter/Intelligenz/Schulbildung/Beruf/soziale Schichtzugehörigkeit vergleichbar sind, geben Auskunft über ihr Selbstkonzept, Erlebnisse moralischer Konfliktsituationen und Urteile über hypothetische moralische Dilemmas. 

Es ist ihr erklärtes Ziel, "ein klareres Bild vom Entwicklungsprozess der weiblichen Persönlichkeit zu liefern", damit die "Integrität und Gültigkeit" des weiblichen Denkens sichtbar und die These der weiblichen Minderwertigkeit widerlegt werde. Dies will sie erreichen, indem sie die Frauen in die Theoriebildung einbezieht, aus der sie vormals ausgeklammert waren.

Weiterführende Literatur



Becker, Ruth, und Beate Kortendiek, eds. Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie. 2nd ed. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften, 2008. Print.

Felnhofer, Anna, ed. Ethik in der Psychologie. Stuttgart: UTB, 2011. Print.

Garz, Detlef. Sozialpsychologische Entwicklungstheorien: Von Mead, Piaget und Kohlberg bis zur Gegenwart. Opladen: Westdt. Verl., 1989. Print.

Hammel, Eckhard. Philosophie und Sexusdifferenz (Rousseau - Kant - Schopenhauer - Hegel). Diss. Freie Universität Berlin, 1989. Microfiche.
 
Honegger, Claudia. Die Ordnung der Geschlechter: Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 1991. Print.

Juranek, Natalie, and Rainer Döbert. Eine andere Stimme?: Universalien oder geschlechtsspezifische Differenzen in der Moral. Heidelberg: Asanger, 2002. Print.

Matlik, Michael. Zwischen Differenz Und Gleichheit : Zur Tradition Philosophisch-anthropologischer Wesensbestimmungen Der Geschlechter. Diss. Universität Bochum, 1994. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1996. Print.
 
Opitz, Claudia, ed. Tugend, Vernunft und Gefühl: Geschlechterdiskurse der Aufklärung und Weibliche Lebenswelten. Münster: Waxmann, 2000. Print.

Puka, Bill, ed. Caring Voices and Women's Moral Frames: Gilligan's View. New York: Garland, 1994. Print.

Richelmann, Doris, Red. "Philosophie, Politik Und Geschlecht: Probleme Feministischer Theoriebildung." Zeitschrift Für Frauenforschung 2 (1999). Print.



Seyla Benhabib, Kommunikative Ethik



Die Professorin Seyla Benhabib entwickelt anhand der Care- Ethik nach Carol Gilligan das „Modell der kommunikativen Ethik“ (zum Beispiel entfaltet anhand von Aufsätzen in Selbst im Kontext: Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, 1992, Suhrkamp).

Benhabib teilt Beziehung in ein Selbst und ein (oder mehrere) Gegenüber ein.
Hierzu führt sie die Unterscheidung zwischen dem „allgemein Anderen“ und dem „konkret Anderen“ ein.
Der "allgemeine Andere" ist eine moralische Person mit den gleichen moralischen Rechten und Pflichten wie wir selbst; er besitzt Gerechtigkeitssinn und Argumentierfähigkeit.
Der "konkrete Andere" ist ein Individuum mit einer bestimmten Geschichte, mit einer eigenen Identität und einer affektiv- emotionalen Konstitution; dieser wird als vom Selbst verschieden wahrgenommen bzw. das Individuelle des Anderen wird erkannt.

Das Wissen und die Anerkennung des Faktes, dass jeder „verallgemeinerte Andere“ ebenso ein „konkreter Anderer“ ist, soll zu einer „erweiterten Denkungsart“ führen – es soll ein interaktiver Universalismus entstehen, durch den jede Dimension des Anderen Berücksichtigung finden.
Hier soll also die von Gilligan aufgeworfene Ambiguität aufgelöst und zu einer Vereinigung von Trennung-Unparteilichkeit->"allgemeiner Anderer" und Bindung-Fürsorge->"konkreter Anderer" geleitet werden.

Ben Habib stellt außerdem heraus, dass die Anwendung des Prinzips der Gleichheit nur dann möglich ist, wenn man die Gleichheit von Fällen auch sicher erfassen kann. Da gleiche Fälle nach universalistischen Prinzipien auch gleich behandelt werden müssen, bedarf es einem möglichst genauen Erfassen der jeweiligen Situation – beispielsweise ist der Diebstahl von 3 Broten durch einen Hungernden und durch einen Menschen, der die Brote verbrennen will, nicht gleich zu bewerten, obwohl in beiden Fällen ein Verlust von drei Broten zu beklagen ist.

Das genaue Erfassen von Motiven, Befindlichkeiten, Resultaten und der Menge der am Konflikt beteiligten Personen nennt Benhabib die "ethische Urteilsfähigkeit". Um eine Situation jedoch richtig erfassen zu können, bedarf es wiederum auch der Fähigkeit, die Perspektive des „konkret Anderen“ einzunehmen. Daraus folgt, dass moralische Situationen nur mit dem Wissen über den situativen Kontext des Handelnden verstanden werden können.

Aus der Sicht von Seyla Benhabib werden durch die rein auf die Rationalität ausgerichtete Diskursethik gefühlsmäßige Reaktionen in der Kommunikation vernachlässigt. „Eine der Hauptschwächen kognitiver und prozeduraler Ethiktheorien seit Kant besteht darin, dass sie die emotionalen und affektiven Grundlagen des moralischen Urteilens und Verhaltens vernachlässigen. [...] Zum Menschen gehört, dass er ein körperhaftes, endliches, leidendes und gefühlbegabtes Wesen ist. [...] Die Idee des Konsens impliziert bereits eine Gemeinschaft und eine Orientierung an einer Gemeinschaft: „Wenn ich ein Gespräch führen will, muss ich zuhören können, ich muss im Stande sein, Deinen Standpunkt zu verstehen; kann ich das nicht, hört das Gespräch auf, entwickelt sich zu einem Streit oder kommt gar nicht erst in Gang. Diskursethik projiziert solche Moralgespräche, die auf wechselseitiger Achtung beruhen, auf eine utopische Gemeinschaft der Menschheit."

(Zitat aus Seyla Benhabib: Im Schatten von Aristoteles und Hegel. Kommunikative Ethik und Kontroversen in der zeitgenössischen praktischen Philosophie. In: Selbst im Kontext. Gender Studies. Suhrkamp, Frankfurt 1992, 66,71)

Samstag, 26. Januar 2013

Zur Person Carol Gilligans

Carol Gilligans Homepage, NYU School of Law










Carol Gilligan ist eine US-Psychologin und Ethikerin. Sie hängt gleichzeitig dem Feminismus an.

Carol Gilligan studierte Englische Literatur am Swarthmore College, Psychologie am Radcliffe College und Sozialpsychologie an der Harvard University.
Später gründete sie das "Harvard Center on Gender and Ecucation" mit Unterstützung Jane Fondas.

Carol Gilligan war eine langjährige Mitarbeiterin vom Lawrence Kohlberg. Dieser hatte das 6-Stufenmodell der Moralentwicklung (und des moralischen Urteilens) entworfen.

Stufe I: Präkonventionelles moralisches Urteilen
Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam
Stufe 2: Orientierung an persönlicher Belohnung

Stufe II: Konventionelles moralisches Urteilen
Stufe 3: Orientierung an Guter-Junge-nettes-Mädchen-Ideal
Stufe 4: Gesetz-und-Ordnung-Orientierung

Stufe III: Postkonventionelles moralisches Urteilen
Stufe 5: Orientierung an Gesellschaftsvertrag
Stufe 6: Orientierung an universalen ethischen Prinzipien

Kohlbergs Modell erfuhr Zustimmung und Kritik. Ein Kritik-Ansatz wird besonders von Carol Gilligan und ihrer "Moral der Fürsorge" vertreten.

Die Kritik an Kohlbergs Vorgehen konzentriert sich darauf, dass er sein Modell an einer Längsschnittstudie an männlichen, weissen Personen ausgerichtet hat. Auch wird behauptet, diese haben eine besonders individualistische Wertorientierung gehabt. Frauen und Vertreter anderer Kulturen seien unterrepräsentiert gewesen.

Carol Gilligan schlägt stattdessen eine andere Folge der Moralentwicklung vor. Sie geht davon aus, "dass Individuen sich von einer Konzentration auf die eigenen Interessen zum moralischen Urteilen auf der Grundlage von Verpflichtung bestimmten Personen und Beziehungen gegenüber entwickeln. Hierauf gehen sie zur höchsten Stufe der Moralität über, der Stufe der Verantwortung und Fürsorge für die Menschheit (ähnlich den Kohlberg'schen Stufen 5 - 6)."

Gilligan vertritt die Ansicht, dass Männer aus abstrakten Gründen Moral kritisch hinterfragen, Frauen dagegen aufgrund enttäuschender Beziehungserfahrungen. Gilligan geht davon aus, dass Frauen sich stärker in den sozialen Kontext eingebunden fühlen und daher bei auf Autonomie ausgerichteten moralischen Studien zwangsläufig schlechter abschnitten. Dem müsse Rechnung getragen werden.
So stellt sie der männlichen Gerechtigkeitsmoral die weibliche Fürsorge-Moral (Care-Ethik) entgegen. Frauen orientierten sich demnach mehr an ihrem sozialen Interaktions- und Fürsorgenetzwerk.
Die männliche Moral basiere dagegen stärker auf abstrakten Begriffen wie Rechten und Pflichten.
Beide Ansätze seien aber gleichwertig.
In ihren Werken nennt Gilligan Beispiele, in denen berühmte Psychologen wie Jean Piaget ihre Studien zu moralischem Verhalten fast nur an männlichen Probanden ausrichteten. Weibliche Probanten dienten oft lediglich als Kontrollfunktion.

Carol Gilligans Kritik an Lawrence Kohlberg hat ihrerseits Kritik hervorgerufen.
Viele Kritiker Gilligans bemängeln die angeblich unzureichende empirische Validität ihrer Ansichten.

Christina Hoff Sommers weist z. B. darauf hin, dass Frauen in den USA bereits die Hälfte aller Studenten stellten und dass das feministische Denken besonders den heranwachsenden jungen Männern schade.


LITERATUR

Gilligan, Carol: In a Different Voice. Psychological Theory and Women's Development; 1982
(dt.: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau)
Gilligan, Carol/Jane Attanucci: Two moral orientations. Gender differences and similarities; 1988;
in: Merrill-Palmer Quarterly 34, S. 223 - 237
Gilligan, Carol: Mapping the Moral Domain: A Contribution to Women's Thinking to Psychological Theory and Education;
1989
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Fraser, N./Cornell, D./Benhabib, S: Feminist Contentions; A Philosophical Exchange (Thinking Gender); London 1995
Belknap, R. A: One woman's life viewed through the interpretative lens of Gilligan's theory; 2000
in: Violence Against Women 6, S. 586 - 605
Lefton, L. A.: Child Development, 2000
in: Psychology, S. 350 - 351





Moralische Orientierung und Entwicklung, Carol Gilligan

Moralische Orientierung und moralische Entwicklung
Carol Gilligan

Hier kann man eine junge und eine alte Frau sehen,
jedoch selten beide zugleich
Am Beispiel einer mehrdeutigen Figur erklärt Gilligan, dass man die Realität zwar gern als unzweideutig wahrnimmt, es aber nicht unbedingt immer eine richtigere oder bessere Sichtweise gibt. Außerdem hebt sie hervor, dass zum Kontext, der die Entscheidung zwischen zwei möglichen Deutungen beeinflusst, nicht nur die Merkmale der Anordnung, sondern auch die vorangegangenen Erfahrungen und die Erwartungen des Wahrnehmenden gehören.


Auf moralische Urteile übertragen bedeutet dies, dass eindeutig erscheinende Lösungsansätze nicht immer die einzig richtigen sein müssen und dass das Bedürfnis nach Geschlossenheit möglicherweise den Weg zu einer anderen Perspektive versperrt.
Gilligan sieht diese Problematik bei der Untersuchung der moralischen Entwicklung gegeben, da die Gerechtigkeitsperspektive die Fürsorgeperspektive als alternativen Bezugsrahmen in der Forschung Piagets und Kohlbergs verstellt. Deshalb sei es wichtig festzuhalten, dass sowohl private als auch öffentliche Beziehungen zwischen Menschen mit Rekurs auf ihre Gleichheit wie auf ihre Bindung charakterisiert werden können und dass sowohl Ungleichheit als auch Trennung moralische Probleme aufwerfen können.
Um auf diesen Umstand besser eingehen zu können, möchte Gilligan zwischen dem moralischen Entwicklungsniveau (Grad der Adäquatheit der Position innerhalb einer Orientierung) und der moralischen Orientierung andererseits unterscheiden.

Besonders Frauen neigen laut Gilligan dazu, moralische Probleme - besonders dann, wenn sie über ihre eigene Erfahrung sprechen - auf eine Art zu definieren, die die Moraltheorie außer Acht lässt.
Die Entdeckung, dass häufig eine andere Stimme als die Gerechtigkeitsperspektive das moralische Urteil von Frauen leitet, lenkte Gilligans Aufmerksamkeit darauf, dass Kohlberg als empirische Basis für seine Theoriekonstruktion eine geschlechtshomogene, männliche Probandengruppe nutzte - dies sei als Basis für eine Generalisierung die beide Geschlechter betreffe logisch inkonsistent.
Auch Piaget definierte seine entwicklungspsychologischen Erkenntnisse auf Grundlage seiner Untersuchungen zum Murmelspiel von Jungen definierte. Gilligan stellt fest, dass Mädchen hier lediglich als Kontrollgruppe von Interesse waren.

Gilligan will im Folgenden die Gerechtigkeitsperspektive und die Fürsorgeperspektive unterscheiden und nimmt aufgrund des empirischen Zusammenhanges von Fürsorgeperspektive und weiblicher Geschlechtszugehörigkeit an, dass Frauen eine anders geartete Perspektivenpräferenz haben.

Beide Perspektiven bezeichnen laut Gilligan verschiedene Möglichkeiten, die Grundelemente moralischen Urteilens zu organisieren: das Selbst, die Anderen und die Beziehungen zwischen ihnen. Es verändere sich mit dem Perspektivenwechsel die Dimension, in der Beziehungen organisiert werden. Innerhalb einer Gerechtigkeitsperspektive sei Unparteilichkeit das Kennzeichen reifen moralischen Denkens, da sie leidenschaftslose Urteile und Objektivität befördere. Aus einer Fürsorgeperspektive sei Unparteilichkeit im Sinne fehlender Empathie aber gerade eines der zentralen Probleme. Gilligan führt im Folgenden weitere Eigenschaften der Perspektiven an:


Fürsorgeperspektive
Gerechtigkeitsperspektive
setzt eine Verbindung und die Möglichkeit des Verstehens voraus setzt Getrenntsein voraus und entsprechend das Bedürfnis nach einer äußeren verbindenden Struktur
das Fehlerrisiko besteht im Vergessen der eigenen Kriterien; man kann sich soweit auf die Perspektive des Anderen einlassen, dass man sich nach den Kriterien anderer definiert und sich als "selbstlos" begreift
das Fehlerrisiko besteht im latenten Egozentrismus, die eigene Perspektive kann leicht mit einem objektiven Standpunkt verwechselt werden


Die Beziehung definiert das Selbst und die Anderen das Selbst als moralische Instanz hebt sich vom Hintergrund sozialer Beziehungen ab

Die beiden Perspektiven, die sie nicht als komplett gegensätzlich, sondern als komplementär verstanden wissen will, verdeutlicht sie am Beispiel zweier Medizinstudenten, deren Tutor in ihrer Ausbildungsinstitution Alkohol konsumiert hatte, den sie jedoch nicht anzeigten.
Student 1 begründete seine Entscheidung dadurch, dass der Tutor ein "angemessenes Ausmaß an Reue" gezeigt habe. Zusätzlich stellt der Student in Frage, ob das Alkoholverbot seitens der Ausbildungsinstitution rechtens sei.
Student 2 rechtfertigt seine Entscheidung mit der Überlegung, dass eine Anzeige das Problem des Tutors nicht lösen würde, da die Bindung zwischen ihm und dem Studenten zerstört würde und somit eine Hilfsperspektive versperrt sei. Weiterhin fragt sich der Student, ob der Tutor selbst sein Alkoholproblem erkennt.

Gilligan verdeutlicht hieran den Unterschied zwischen Fürsorge im Rahmen der Gerechtigkeitsperspektive und der Fürsorgeperspektive selbst. Student 1 mildert durch Gnade das Recht ab; Fürsorge wird zu einem Akt der Gnade. Auch sind im Rahmen der Gerechtigkeitsperspektive supererogatorische Pflichten, die aus persönlichen Beziehungen erwachsen möglich, ebenso frei gewählte Altruismus. All dies tastet die Grundannahme der Gerechtigkeitsperspektive nicht an: Die Distinktsetzung von Selbst und Anderen sowie die Logik der Reziprozität und gleicher Achtung.
Dem gegenüber ist die Fürsorge als Moraltheorie weniger gut ausgearbeitet und verfügt nicht über ein geeignetes Vokabular, um sie zu beschreiben. Es geht bei der Fürsorgeperspektive um die Interdependenz von Ego und Alter, um die Auffassung von Handlung als einfühlsamer Reaktion, die in einer Beziehung steht. Hier wird die die Distinktsetzung von Selbst und Anderen problematisch, da sie zu Gleichgültigkeit führt. Gilligan hebt darauf ab, dass jeder der Studenten mit seiner Rechtfertigung Problemaspekte erörtert, die der andere nicht erwähnt. Sie hält fest, dass die verschiedenen Perspektiven einander nicht negieren, aber die Aufmerksamkeit jeweils auf unterschiedliche Dimensionen der Situation lenken.

Drei zentrale Fragen bestimmen Gilligans systematische Forschung über Probleme der moralischen Orientierung (nicht Entwicklung!) als einer Dimension moralischen Urteilens:

1) Werden bei der Diskussion eines moralischen Dilemmas Probleme der Gerechtigkeit und/oder der Fürsorge artikuliert?
2) Gibt es eine Tendenz, die Aufmerksamkeit auf nur eine Art von Problem zu lenken und die andere nur minimal zu berücksichtigen?
3) Besteht ein Zusammenhang zwischen moralischer Orientierung und Geschlecht?

Laut Gilligan liefern empirische Studien für alle drei Fragen positive Ergebnisse.
"Aufgefordert, einen selbst erlebten moralischen Konflikt zu beschreiben, formulierten 55 von 80 (69%) nordamerikanischen Heranwachsenden und Erwachsenen mit höherem Bildungsgrad sowohl Gerechtigkeits- wie Fürsorgeargumente. Zwei Drittel jedoch (54 von 80) konzentrierten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf eine der beiden Perspektiven [...] In dieser Untersuchung zeigten Männer wie Frauen [...] mit gleicher Wahrscheinlichkeit" das Phänomen der Konzentration auf eine Perspektive [...] Mit einer Ausnahme konzentrierten sich alle Männer, die überhaupt eine
Konzentration aufwiesen, auf Gerechtigkeit."

Gilligans Folgerungen:
a) Die Möglichkeit der Konzentration auf Fürsorge würde zum Verschwinden gebracht, wenn keine Frauen in Untersuchungsstichproben einbezogen würden.
b) Die Betonung der Fürsorge im moralischen Urteil der Frauen weist auf die Beschränktheit einer allein auf Gerechtigkeit ausgerichteten Moraltheorie hin.
c) Wenn der Bereich der Moral mindestens zwei Orientierungen umfasst, ist die von den ProbanInnen gezeigte Präferenz ein Indiz dafür, dass Menschen dazu neigen, die andere Orientierung aus dem Blick zu verlieren. Es ist den meisten nicht möglich, beide Orientierungen zu integrieren und die entstehende Ambiguität auszuhalten.

Mit Rückblick auf Piagets und Kohlbergs geschlechtshomogene Versuchsgruppen merkt Gilligan an, dass diejenigen, die moralische Urteile anhand der "Achtung vor Regeln" zusammenfassen oder mit der Prämisse dass "es (nur) eine Tugend gibt und ihr Name Gerechtigkeit ist" beginnen, Frauen in der Moraltheorie notwendig als problematisch sehen.

Im Folgenden legt Gilligan eine Studie von Kay Johnston dar, bei der Johnston die Beziehung zwischen moralischer Orientierung und Problemlösungsstrategien ergründen wollte. Dazu verwendete Johnston Fabeln, um die spontane moralische Orientierung und Orientierungspräferenz zu testen. Die 60 ProbandInnen zwischen 11 und 15 Jahren sollten das in der Fabel aufgeworfene moralische Problem angeben und es lösen. Anschließend wurden sie gefragt, ob man das Problem auch auf eine andere Weise lösen könne. Etwa die Hälfte der Kinder wechselte spontan die moralische Orientierung, wenn sie gefragt wurden, andere folgten einer Hilfestellung des Interviewers. Abschließend fragte man die Kinder, welche der von ihnen gefundenen Lösungen die beste sei, wozu die Mehrzahl der Kinder eine eindeutige Meinung hatte.
Johnstons Ergebnis unterstützt Gilligans These von der weiblichen Moral: Jungen präferierten spontan häufiger die Gerechtigkeitslösungen und Mädchen verwendeten spontan häufiger Fürsorgelösungen.

Aus dieser Studie folgert Gilligan, dass der Umstand, dass Kinder in der Lage sind die moralische Orientierung zu wechseln, darauf hindeutet, dass die Wahl der moralischen Orientierung Teil einer moralischen Entscheidung ist. Ob diese Wahl implizit oder explizit getroffen wird, kann Gilligan nicht näher bestimmen. Sie nimmt an, dass die Wahl mit Fragen der Selbstachtung und Selbstdefinition zusammenhängt. Sie unterstreicht mit Johnstons Studie ihre Annahme, dass die moralische Entwicklung nicht anhand einer einzigen linearen Stufenfolge abgebildet werden kann.

Die Frage wie sich eine Orientierungspräferenz herausbildet wird von Gilligan unter dem Blickwinkel von Chodorows Theorie der Objektbeziehung betrachtet:
"Die Theorie der Objektbeziehung verknüpft die Herausbildung des Selbst mit der Erfahrung von Trennung, indem sie Individuierung an Trennung koppelt und so die Erfahrung des Selbst der Verbundenheit mit anderen entgegensetzt". Chodorow verbindet die Herausbildung der Geschlechtsidentität durch das Kind (Selbstidentifikation als männlich oder weiblich) mit der Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Er stellt die These auf, dass die mütterliche Fürsorge bei Mädchen die Fortdauer eines in Beziehung verankerten Selbstgefühls (relational sense of self), da weibliche Geschlechtsidentität mit dem Gefühl, mit der eigenen Mutter verbunden zu sein, zusammenstimmt. Bei Jungen steht die Geschlechtsidentität in einem Spannungsverhältnis zur Mutter - angeblich erfahren also Jungen zwar in der Mutter-Kind-Beziehung Anteilnahme und Fürsorge, ist aber in seiner männlichen Identität bedroht.

Für die Mädchen bedeutet ihre Bindung zur Mutter ein Hindernis auf dem Weg zur Individuierung, da die Verbundenheit mit anderen laut Chodorow die Selbstentwicklung stört. Gilligan steht dieser Haltung kritisch gegenüber und verweist darauf, dass PsychologInnen, die Moral mit Trennung und Autonomie konfundieren, Fürsorge mit Selbstaufopferung und Gefühl assoziieren anstatt anzuerkennen, dass Fürsorge eine Form des Wissens und eine kohärente moralische Position ist.

Zwei Phänomene bilden für Gilligan einen Zirkel, der die Moralphilosophie und Psychologie beherrscht:
-Die Gleichsetzung von Mann und Mensch [laut Gilligan kennzeichnend für Platonische - / Aufklärungstradition und Psychologie]
-Die Gleichsetzung von Fürsorge mit Selbstaufopferung

Dieser Nexus muss laut Gilligan neu evaluiert und die weibliche Position muss in ihn einbezogen werden. Sie schlägt vor, die Moraltheorie an zwei Beziehungsdimension auszurichten: a) Bindung als Verbundenheit, Fürsorge b) Getrenntheit als Unparteilichkeit, Gerechtigkeit. Dies würde die weibliche Stimme anerkennend in die Forschung einbeziehen und der Fürsorgeperspektive Raum schaffen. die ein ergänzendes und unverzichtbares Gegenstück zur Gerechtigkeitsperspektive darstellt.



Kritik an Gilligans Theorie



Kritik an Gilligans Theorie


  • Fehlerquelle: Cis-Sexismus, Biologismus, fehlende Klärung des Begriffes "Frau":


Carol Gilligan klärt nicht, was genau sie unter dem Begriff "Frau" versteht, den sie zur Einteilung ihrer Probandinnen verwendet. Einige von Gilligans Aussagen lassen darauf schließen, dass sie unter Frauen nur diejenigen weiblich gelesenen Personen fasst, die über eine Vagina verfügen (siehe Abtreibungsstudie). Hinsichtlich der Selbstidentifikation mit dem zugewiesenen Geschlecht macht Gilligan ebensowenig Angaben wie über Menschen, die sich außerhalb der Geschlechterbinärität verorten.

Teil ihrer systematischen Forschung zur moralischen Orientierung ist neben zwei weiteren Punkten die Frage:"Besteht ein Zusammenhang zwischen moralischer Orientierung und Geschlecht?" (Moralische Orientierung und moralische Entwicklung, Seite 88, Punkt 3). Hier spricht Gilligan in der englischen Originalausgabe von "gender", nicht von "sex" – eine wichtige Unterscheidung. Der Begriff Gender bezeichnet zum einen die soziale Geschlechterrolle (engl. gender role) beziehungsweise die sozialen Geschlechtsmerkmale. Er bezeichnet also alles, was in einer Kultur als typisch für ein bestimmtes Geschlecht angesehen wird (zum Beispiel Kleidung, Beruf und so weiter); er verweist nicht unmittelbar auf die körperlichen Geschlechtsmerkmale (sex). 

An dieser Stelle besteht die Gefahr, moralisches Empfinden mit dem biologischen Geschlecht zu verknüpfen, was bedeuten würde, dass moralisches Verhalten durch Hormone oder eine andere Körpereigenheit beeinflussbar wäre. Leider gelingt es Gilligan nicht, die Begriffe sauber zu trennen: In ihrer Einführung in Die andere Stimme stellt sie zwar einerseits fest, dass die andere Stimme nicht an ein Geschlecht gebunden sei und ihre Zuschreibung zu Frauen ein rein empirischer Sachverhalt sei (S.10), jedoch führt sie noch auf derselben Seite an, dass Geschlechterunterschiede durch sozialen Status und aufgrund von biologischen Gegebenheiten entstehen.

"Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht", schrieb Simone de Beauvoir 1949 und legte damit den Grundstein für die moderne Konzeption der Geschlechter. Die feministische Geschlechterforschung hat gezeigt, wie Geschlecht als eine soziale Konstruktion etabliert wird, als ein künstliches Konglomerat von Körperbildern, Rollenvorschriften, Bedeutungen, Wertigkeiten, Rechten und Pflichten. Zum sozial konstruierten Geschlecht gehört auch dessen Naturalisierung, also die künstlich hergestellte Überzeugung dass die Geschlechter natürlich und biologischen Ursprungs sind.

Als prominenteste Vertreterin der post-modernen Geschlechtertheorie gilt wohl die amerikanische Philosophin Judith Butler. Um die soziale Produktion von Geschlecht zu erklären, hat Butler den Begriff der "Performanz" geprägt. Performanz ist die Darstellung von Geschlecht, und zwar nicht als Ausdruck eines inneren Geschlechterkerns, sondern umgekehrt, als ritualisierte Wiederholung von Verhaltensvorschriften, welche auf die Dauer die Illusion einer Geschlechtsidentität erzeugt.

Butler bestreitet die Existenz einer essentiellen, dh. von Geburt an und natürlich gegebenen Geschlechtsidentität, welche sich in den Handlungen, Gesten und Sprache der Menschen, je nach Mann oder Frau unterschiedlich, ausdrückt. Vielmehr beschreibt sie, wie als allererstes bei der Geburt des Kindes seine Geschlechtszugehörigkeit durch die logische Zuordnung zu einer der beiden Geschlechtskategorien anhand seines anatomischen Geschlechts initiiert wird: "Ist es ein Junge oder ein Mädchen?", der Blick zwischen die Beine liefert die Antwort. Im Verlaufe des Lebens wird das Gefühl der Geschlechtszugehörigigkeit durch ritualisierte Wiederholung von Konventionen erzeugt. Die fortdauernde Performanz der Geschlechtszugehörigkeit, auch "doing gender" genannt, erzeugt rückwirkend die Illusion einer natürlich gegebenen Geschlechtsidentität als Mann oder Frau.

Insofern wäre es wünschenswert, wenn Gilligan klarer Stellung beziehen, ihren Begriff von "Gender" erläutern und auf seine biologistischen Wurzeln überprüfen würde. In der Sozialisation hin zu einer Geschlechtsperformanz stecken möglicherweise wichtige Hinweise zur Erklärung der Häufigkeit der Care-Ethik bei Frauen, die sich Gilligan aus diesem Grund verschließen. Es darf angenommen werden, dass die Fürsorgemoral eine Rollenmoral ist, die an gruppen- und kulturspezifischen Normierungen geknüpft ist. Stattdessen bemüht sie, wenn auch nur für den Kontrast, Nancy Chodorows idealisierte Mutterrolle von angeborener Selbstaufgabe, die in den Zeiten von Vaterschaftsurlaub der Vergangenheit kritisch hinterfragt und dekonstruiert werden sollte.


  • Gefahrenquelle: Nicht replizierbare Ergebnisse & Interpretation statt wissenschaftlicher Aufbereitung:

Neben den von Debra Nails  und Lawrence Walker aufgezeigten Mängeln ist noch Gertrud Nunner-Winkler anzuführen, die in "Weibliche Moral" zwei ungünstige Implikationen aus Gilligans Werk extrahiert:
(Nails und Walkers Positionen sind zu finden in "Sozialwissenschaftlicher Sexismus: Carol Gilligans Fehlvermessung des Menschen" bzw. "Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung")

1) Vorfindliche moralische Orientierung ließe sich auf eine Zweiertypologie reduzieren
2) Es gäbe einen universellen Entwicklungsmechanismus, der die Verknüpfung von  
    Geschlechtszugehörigkeit und Moralorientierung erklärt.

In einer Längsschnittstudie von Nunner-Winkler und Weinert aus dem Jahr 1998, bei der 200 Kinder unterschiedlicher Schichtherkunft zu einer Geschichte befragt wurden, in der der Protagonist ein Bedürfnis befriedigt und dazu eine Norm übertritt, ergab sich Folgendes:

  •  Schon ab 4 Jahren wissen fast alle Kinder (98%), dass es falsch ist, zu stehlen

  • Die Begründung dieses Urteils war bei beiden Geschlechtern gleich, auch die Mädchen begründeten die Verwerflichkeit des Diebstahls mit Regelgeltung – die Optionen waren Sanktion Opferorientierung, Regelgeltung und Bewertung.


In einer weiteren Studie befragte sie männliche und weibliche Jugendliche zu ihrer Einstellung zu Schwangerschaftsabbrüchen – hier konnte Gilligans These der Beziehungsethik von Frauen bestätigt werden. Allerdings drehte sich bei einer Befragung zur Wehrdienstverweigerung das Antwortschema um. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht die Geschlechtszugehörigkeit, sondern die Betroffenheit über die Urteilsbildung entscheidet.


Weiterführende Literatur:
Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt Am Main: Suhrkamp, 2011. Print.
Nunner-Winkler, G. (1998) Zum Verständnis von Moral – Entwicklungen in der Kindheit. In: F.E. Weinert (Hrsg.), Entwicklung im Kindesalter. Weinheim: Beltz, Psychologische Verlags Union, S. 133.152.
Beauvoir, Simone De. Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Stuttgart: Dt. Bücherbund, 1983. Print.